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Um Leben und Tod – Triage in Zeiten von Corona

Ein Beitrag des Verfassungsrechtlers Prof. Dr. Dr. Tade Spranger.

Die aktuelle Corona-Krise stellt nicht nur das gesellschaftliche Leben und das gesamtgesellschaftliche Miteinander auf den Kopf, sie bringt auch zahllose rechtliche Herausforderungen mit sich, deren Aufarbeitung wohl noch Jahre in Anspruch nehmen wird. Wer einen Blick ins Grundgesetz wagt, wird feststellen, dass nahezu keines der im ersten Abschnitt des Grundgesetzes genannten Menschenrechte unbeschädigt durch die Krise kommt. Die Notstandsgesetze, die 1968 zu bundesweiten Protesten geführt haben, waren auf den Punkt gebracht ein Klacks im Vergleich zu dem, was nunmehr innerhalb weniger Tage zumeist auf dem Verordnungswege durchgesetzt worden ist.

Umso irritierender mutet es an, wenn der aktuell zu „kreativer Gesetzgebung“ durchaus bereite Staat in anderen krisenbedingten Notfallsituation beharrlich schweigt. Zu diesen Bereichen, in denen es gesetzgeberisch merkwürdig still ist, gehört zweifellos die sogenannte Triage.

Der Begriff der Triage leitet sich vom französischen Wort „trier“ ab, das „aussuchen“ oder „auslesen“ bedeutet und die Situation bezeichnet, dass bei unerwartet hohem Aufkommen an Patienten und objektiv unzureichenden Ressourcen medizinische Leistungen priorisiert werden müssen. Mit Blick auf die Corona-Krise wurde und wird hier vor allem die Frage erörtert, anhand welcher Kriterien intensivmedizinische Ressourcen zugeteilt werden sollen. Es würde zu weit führen, vorliegend alle denkbaren Triage-Konstellationen vorzustellen. Zur Verdeutlichung der Bandbreite der drohenden Probleme genügt der Hinweis auf die Fälle der sogenannten Triage bei Ex-ante-Konkurrenz einerseits und Triage bei Ex-post-Konkurrenz andererseits: Während es im erstgenannten Fall darum geht, vorab eine zu große Zahl an Patienten auf quantitativ unzureichende Beatmungsplätze zu verteilen, steht in der zweiten Konstellation die Entscheidung an, die bereits stattfindende lebenserhaltende Behandlung eines Patienten zu beenden, um mit dem dafür erforderlichen medizinischen Gerät das Leben eines anderen Patienten (mit besserer Prognose) zu retten.

Diese Entscheidung über Leben und Tod delegiert der Staat aktuell auf die medizinischen Fachgesellschaften: Unter Federführung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv-und Notfallmedizin (DIVI) und unter Mitwirkung von sechs weiteren Fachgesellschaften und Einrichtungen wurde am 25.03.2020 ein Papier mit dem Titel Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie - Klinisch-ethische Empfehlungen veröffentlicht, das zwar laufend überarbeitet werden soll, aber gleichwohl derzeit den medizinischen status quo darstellt.

Es kann kaum bestritten werden, dass sich die zuständigen Ärzte in den befürchteten Szenarien kaum zu ermessenden Konflikten ausgesetzt sehen, die zu medizinischen, ethischen, seelischen, aber auch rechtlichen Problemen führen. Vor diesem Hintergrund ist zunächst einmal jede Handreichung hilfreich, die wohlüberlegte, begründete, transparente und einheitliche Entscheidungskriterien bietet. Gleichwohl besteht bei jeder Handlungsempfehlung eben auch das Risiko einer zu schematischen und unreflektierten Befolgung. Gerade in katastrophenartigen Krisen- und Drucksituationen besteht die Gefahr, dass die entsprechenden Handreichungen ohne Ansehung des Einzelfalls „abgearbeitet“ werden. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund haben verschiedene Patientenrechte- und Behindertenorganisationen die DIVI-Empfehlungen teils deutlich kritisiert, weil viele Menschen mit Behinderung aufgrund der dort aufgestellten Kriterien eine „schlechte Erfolgsaussicht“ aufweisen – was sodann bei der Entscheidung über die Aufnahme auf die Intensivstation negativ gewichtet werden würde.

Kritikwürdig ist in diesem Zusammenhang aber vor allem, dass sich staatlicherseits keine wie auch immer geartete Vorgabe findet. Kaum nachvollziehbar ist dieses Schweigen vor allem angesichts des sogenannten Wesentlichkeitsgrundsatzes: In ständiger Rechtsprechung führt das Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten aus, dass der parlamentarische Gesetzgeber verpflichtet ist, „wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen selbst zu treffen und nicht anderen Normgebern oder der Exekutive zu überlassen“ (siehe etwa BVerfGE 147, 253 ff.). Was insoweit „wesentlich“ ist und was nicht, entscheidet sich vor allem im Lichte der Grundrechte. Hier zeigt sich, dass das über Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Recht auf Leben neben der in Art. 1 Abs. 1 GG genannten Menschenwürde zu den „Kardinalgrundrechten“ des Grundgesetzes zählt. Beide Berechtigungen eint, dass sich hier der Staat nicht nur etwaiger Eingriffe zu enthalten, sondern sich vielmehr aktiv schützend vor diese Grundrechte zu stellen hat.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Staat dieser Pflicht aktuell nicht einmal ansatzweise nachkommt und sich schlicht und ergreifend hinter medizinischen Fachgesellschaften versteckt. Diese Feigheit ist rechtsstaatlich nicht hinnehmbar. Der Deutsche Ethikrat weist in seiner Ad-hoc-Empfehlung  Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise vom 27. März 2020 daher zu Recht auf die Dimension der negativen Effekte einer solchen staatlichen Untätigkeit hin: „Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten, und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist. Selbst in Ausnahmezeiten eines flächendeckenden und katastrophalen Notstands hat er nicht nur die Pflicht, möglichst viele Menschenleben zu retten, sondern auch und vor allem die Grundlagen der Rechtsordnung zu garantieren. (…) Auch in Katastrophenzeiten hat der Staat die Fundamente der Rechtsordnung zu sichern.  Weniger noch als selbst zahlreiche tragische Entscheidungen in Lebens- und Sterbensnotfällen könnten Staat und Gesellschaft eine Erosion dieser Fundamente ertragen.“ (S. 4 der Ad-hoc-Stellungnahme).

In der Tat wäre es weder praktikabel noch verfassungskonform, wenn staatlicherseits konkrete Entscheidungen zugunsten oder zu Lasten einzelner Patienten vorgenommen werden würden. Geboten und verfassungsrechtlich gefordert ist es jedoch, dass der Staat selbst Entscheidungskriterien entwickelt und bereitstellt, die den betroffenen Patienten und den handelnden Ärzten gleichermaßen ein größtmögliches Maß an Rechtssicherheit und Grundrechtsschutz vermitteln.

Tade Spranger, Jurist, ist außerplanmäßiger Professor an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Rechtsanwalt und Leiter eines Zentrums zur Regulierung der modernen Lebenswissenschaften.

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